In der bibliothekarischen Sacherschließung kommen zwei grundverschiedene und normalerweise getrennt voneinander auftretende Formen der Indexierung zur Anwendung. Einerseits die Klassifikation, die mit ihren mehrstufig verknüpften
Klassen und Unterklassen ein fest definiertes System des Wissens darstellt und den Nutzern das Suchen in ihren Verzweigungen erlaubt. Andererseits die verbale Sacherschließung, die auf der Zuweisung
von kontrolliertem Schlagwort-Vokabular beruht. Diese Begriffe sind in der Regel nicht in eine Systematik eingebunden. In manchen Thesauri bleibt dieses Vokabular gänzlich unverbunden, in anderen sind die zugelassenen Begriffe zumindest mit Oberbegriffen und Unterbegriff in vertikaler Richtung und mit Verweisungsformen in horizontaler Richtung verknüpft. Aber auch wenn sie diese „Molekülform“ annehmen, bleiben sie letztlich frei schwebende Partikel im Thesaurus der zur Indexierung zugelassenen Schlagworte.
Das Browsen in einer Systematik hat den Vorteil, dass sich die Nutzer dem gesuchten Gegenstand schrittweise nähern können, indem sie den sich verfeinernden Ästen der Systematik folgen und so den Ort auffinden, den der Gegenstand in der jeweiligen Wissensordnung einnimmt („browsen“). Der Nachteil besteht jedoch darin, dass Erweiterungen und Umbauten von Klassifikationen nachträglich nur noch bedingt möglich sind. Auch haben Umbauten nicht selten zur Folge, dass bis dato klassifizierte Werke neue Systemstellen erhalten müssen bzw. müssten (Retroklassifizierung).
Die verbale Sacherschließung hat nicht mit den Nachteilen einer starren Ordnung zu kämpfen, und in der Regel ist es ohne allzu großen Aufwand möglich, den Thesaurus um neues Vokabular zu bereichern. Des Weiteren sind richtig vergebene Schlagworte in der Regel bezeichnender als die Zuordnung zu einer Klasse. Allerdings hat die spätere Suche mit Schlagworten – so sehr sie dem am Google-Schlitz geschulten Nutzer als die einzig denkbare Form des Retrieval erscheinen mag – den Nachteil, dass sie unsystematisch erfolgt. Sofern sich der Nutzer nicht die Mühe macht, die für den gesuchten Gegenstand möglicherweise relevanten Schlagworte vorab aus dem Thesaurus herauszufinden, bleibt seine Suche – das „searchen“ – mehr oder weniger eine Zufallsoperation, ein Stochern in einem Thesaurus, dessen Inhalt er nicht überblickt, und den er sich auch nicht systematisch erschließen kann.
Eine Kombination der beiden Methoden besteht nun darin, dass zwar die Indexierung ausschließlich mit verbaler Sacherschließung erfolgt, die im Thesaurus enthaltenen Schlagworte jedoch außerdem einen festen Platz in einer Klassifikation erhalten. In diesem Zwei-Schalen-Modell sind es also allein die Schlagworte, die fest mit den Objekten verbunden sind. Daher profitiert dieses System von allen Vorteilen der verbalen Sacherschließung mit treffenden Schlagworten und bietet gleichzeitig eine systematische Suche an, die in einer zweiten Ebene angesiedelt ist. Da die Klassifikation nicht direkt mit den Objekten verbunden ist, sondern lediglich die verwendeten Schlagworte in eine sekundäre Ordnung bringt, kann ihre Systematik jederzeit umgebaut und erweitert werden, ohne die primäre Indexierung zu stören. Mit anderen Worten: Das Zwei-Schalen-Modell kombiniert die Vorteile beider Methoden und vermeidet bzw. kompensiert ihre jeweiligen Nachteile.
Das klingt zunächst wie ein reines Gedankenexperiment, und doch wurde ein solches Modell bereits in einer Fachsystematik für Kunstgeschichte realisiert. Anlass dazu gab die Umstellung der Sacherschließung im KUBIKAT, die zwischen 2004 und 2009 erfolgte. An Stelle der seit 1996 verwendeten proprietären Fachsystematik trat die Verwendung von SWD-Vokabular. Um dabei auch in der bislang erschlossenen Literatur die alten Systemstellen durch SWD-Schlagworte zu ersetzen, war eine komplexe Datentransformation erforderlich. Diese Arbeit führte Ruth Göbel im Auftrag und in Zusammenarbeit mit den Bibliotheken des KUBIKAT-Verbundes durch. Hierzu transformierte sie die alte Systematik zunächst in eine verschlankte neue Systematik. In einem zweiten Schritt ermittelte sie die in der SWD vorhandenen kunsthistorisch relevanten Schlagworte und setzte diese in die neue Systematik ein. Wichtige, in der SWD- fehlende Schlagworte wurden parallel dazu von den KUBIKAT-Bibliotheken im Redaktionsverfahren neu angelegt. So entstand die neue Fachsystematik, die kunsthistorisch relevante SWD-Vokabeln systematisiert und soweit als möglich auch in den Bezeichnungen der Klassen SWD-Vokabular verwendet (letzteres war nicht durchgehend möglich). Diese neue Systematik diente damals jedoch nur als Instrument und Zwischenschritt bei der Datentransformation. Über den Sinn eines zusätzlichen Systematik-Angebots im Zeitalter des Google-Schlitzes konnte im Kreis der KUBIKAT-Bibliotheken keine Einigkeit erzielt werden. So greift jetzt die Bibliotheca Hertziana die damals entwickelte neue kunsthistorische Systematik wieder auf. Ein Tool soll das Browsen ermöglichen, parallel dazu wird die Arbeit an der Redaktion der neuen Systematik (nun mit GND-Vokabular) wieder aufgenommen. Das Zwei-Schalen-Modell erlaubt jederzeit Umbauten und Erweiterungen der Hertziana-Systematik ohne die laufende und die bislang geleistete Sacherschließung zu tangieren. Diese Systematik ist weder ein Wissensmonument, noch ein direktes Instrument der Indexierung. Vielmehr handelt es sich hier ausschließlich um ein wandelbares Instrument der Recherche, das ergänzend zur Schlagwortsuche angeboten werden soll.
Außerdem bietet das Zwei-Schalen-Modell die Möglichkeit, Einschränkungen , die sich aus dem internen Regelwerk eines Thesaurus ergeben, zu kompensieren. Zahlreiche für den Kunsthistoriker geläufige Begriffe, wie beispielsweise „Antikenrezeption“ und „Kunsttheorie“ haben als Komposita keine Chance in die GND aufgenommen zu werden. In der Systematik lassen sie sich jedoch unterbringen und mit
einem Suchbefehl kombinieren, der zwei Schlagworte verknüpft, beispielsweise „Antike“ UND „Rezeption“. Besonders effizient sind solch geplante Kombinationen, wenn sie bereits bei der Vergabe der Schlagworte mit bedacht werden.
Die Trennung von Systematik und
Thesaurus der Schlagworte bietet weitere Möglichkeiten der Flexibilisierung. So ist es möglich, die Systematik zusätzlich in einer vom Thesaurus abweichenden Sprache anzubieten. Freilich erfordert solche eine Mehrsprachigkeit einen erheblichen Redaktionsaufwand. Außerdem ist es möglich, über die Systematik mehrsprachige Suchen auszulösen und dann beispielsweise auch Schlagworte in englischer Sprache zu treffen, die über eine Fremddatennutzung in den Katalog gelangten.
Siehe hierzu auch die begleitenden Ausführungen zu einer experimentellen Umsetzung.